Warum neue Ideen am besten in Bewegung gedeihen
Was immer man von Friedrich Nietzsche halten mag, in einem hatte er meiner Meinung nach Recht: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und in freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.“ Wie so vieles, was der Philosoph schrieb, ist die Aussage natürlich sehr überspitzt, und jeder von uns hatte wohl auch schon einmal eine gute Idee im Sitzen. Aber im Kern deckt sich meine Erfahrung mit der Nietzsches: Die Ideen und Gedanken, die ich als gut und neu wahrnehme, kommen vor allem beim Laufen und Gehen zu mir. Vor allem sind dies diejenigen Ideen, die nicht nur ein theoretisches Problem lösen, sondern auch mit meinem Leben zu tun haben. Vor etwa einem Jahr zum Beispiel wurde mir mit Schrecken bewusst, dass meine Zeit als Hochschullehrer in ein paar Jahren zu Ende gehen wird. Ein Schrecken durchfuhr mich: Was bin ich dann? Ein Rentner? Und was werde ich tun? Aquarelle malen? (Nichts gegen das Malen, aber wer mich kennt weiß, dass ich dazu völlig unbegabt bin). Natürlich war da auch immer schon mein zweiter Beruf als narrativer Organisationsberater, Coach und Autor, der mir ja bleiben würde. Aber in meinem Kopf war sehr präsent diese Grenze des sogenannten Ruhestands, auf den ich starrte wie ein Kaninchen ins hypnotische Auge einer Schlange. Und ich weiß noch, es war der 6. Januar 2021 (in Bayern der Feiertag „Heilige drei Könige“, an dem die Weisen aus dem Morgenland kommen), als mich beim Laufen durch den Wald plötzlich die Idee überfiel: Es ist kein Ende, sondern ein Anfang. Ich gründe mich neu als der, der ich auch schon immer bin: als Coach und Berater. Von da an drehte sich für mich das Gefühl zu meiner Zukunft um 180 Grad, und ich konnte wieder als aktiv Handelnder in die Zukunft schauen und nicht länger nur als hypnotisiertes Kaninchen.
Leser:innen mag diese Idee banal erscheinen – schließlich war es ja eigentlich klar, dass ich als Berater, Coach und Autor weiterarbeiten würde. Aber der Unterschied, der für mich den entscheidenden Unterschied machte, war, dass ich nicht mehr das Ende einer Geschichte sah, sondern einen Anfang. Und dass diese neue Sichtweise nicht nur Theorie war, sondern auch in den Emotionen und, mit Nietzsche könnte man sagen, in den Muskeln, im Körper verankert war. Ich denke, so ist es oft mit Ideen, Gedanken und Perspektiven, die uns neue Wege und Perspektiven zur Veränderung aufzeigen: Im Grunde haben wir es schon längst gewusst – aber wir mussten es erst einmal „inkorporieren“. Und dabei hilft das Gehen. Denn in der Bewegung sind wir offenbar freier und können die festgefahrenen Denk- und Lebensroutinen, die uns sonst im buchstäblichen Sinn an unseren Stühlen kleben lassen, zumindest ein Stück weit loslassen. Vielleicht erst einmal nur probehalber. Aber oft auch neue Wege zu Veränderungen eröffnend, wie ich häufig bei mir selbst, aber auch als Coach sehe.
Ähnliches erlebe ich auch dann, wenn es nicht so sehr um lebensverändernde neue Gedanken, sondern um die Entwicklung neuer Ansätze und Methoden für die berufliche Praxis geht. Meine Ko-Autorin und Berater-Kollegin Christine Erlach und ich „schreiben“ unsere Bücher und Artikel meist im Gehen: Wir treffen uns in Stuttgart und entwickeln Ideen auf den Wegen zwischen Karlshöhe und Weißenburgpark, zwischen Killesberg und Kräherwald. Auch unsere Seminare bereiten wir auf diese Weise vor. Und auch hier ist unsere gemeinsame Erfahrung: Das Gehen – und natürlich das Gespräch im Gehen – erleichtert es, aus festgefahrenen gedanklichen Routinen auszubrechen, neue Perspektiven einzunehmen, alte Lieblingsideen einmal zu parken und neuen, vielleicht noch unausgegorenen Gedanken Raum zu geben. Gerade diese noch unfertigen, anfangs roh und abseitig wirkenden Gedanken erweisen sich häufig dann, drei Kilometer oder zwei Tage später, als der entscheidende Durchbruch, der neue Paradigmen, Perspektiven und Praktiken ermöglicht. Gehen schafft Veränderungen, das ist nicht nur meine tiefe Überzeugung, sondern auch meine mich seit vielen Jahren begleitende Erfahrung. Natürlich könnte man jetzt Belege aus Psychologie und Physiologie, von Yoga bis Feldenkrais anführen, warum das so ist – da ich mit einem Philosophen als Gewährsmann begonnen habe, hier stattdessen noch einer: Es heißt, dass Aristoteles und seine Schüler ihre Gedanken in einer Wandelhalle – griechisch Peripatos“ – im Gehen entwickelten; gehende Denker kann man heute noch als Peripatetiker bezeichnen. Immerhin haben sie dabei eine der Grundlagen des europäischen Denkens gelegt.
Das Gehen ist für mich auch im Coaching ein ganz wesentliches Instrument. Zum Glück wohne ich in einer sehr schönen Gegend, dem Chiemgau im Süden Bayerns, in dem sich zwischen Simsee und Chiemsee zahlreiche und vielfältige Wege finden, auf denen man gerade an Werktagen ziemlich alleine unterwegs sein kann. Mit meinen Coachees gehe ich eine oder zwei Stunden, manchmal auch halbe Tage, und wir führen das Coaching-Gespräch im Gehen. Manchmal haben wir ein Notizbuch oder Tablet dabei, um uns wichtige Einsichten zu notieren, manchmal vertrauen wir aber auch darauf, dass das, was wichtig ist, bleiben und wiederkommen wird. Manchmal schließen wir den Coachingtermin im Sitzen ab und rekapitulieren, manchmal machen wir dies auch in einem Extratermin, in Präsenz oder online.
Die Erfahrung ist eine ähnliche wie die, die persönlich gemacht habe: Im Gehen fällt es leichter, gewohnte Denk-Pfade zu verlassen und, ja, neue Wege zu finden für das eigene Leben, die eigene Karriere. Wenn es um Veränderungen im Leben oder im Beruf geht, ist für mich das Coaching im Gehen der Königsweg zu gelingenden Veränderungen. Meiner Erfahrung nach hat Nietzsche zumindest so weit Recht: Den Gedanken, die im Gehen geboren werden, ist auf jeden Fall zu trauen.
Mehr zum Coaching im Gehen gibt es hier.