Vor ein paar Wochen ist das neue Buch von Christine Erlach und mir erschienen: Michael…
Nebelfänger – Ideen aus der Luft greifen
Den Nebel habe ich immer geliebt. Als Kind erschien es mir aufregend geheimnisvoll, wenn die bekannte, alltägliche Umgebung hinter einer Wattewand verschwand, und ich konnte mir vorstellen, dass diese Welt vielleicht ganz anders aussehen würde, wenn sich der Nebel lichten würde. Vielleicht wäre das Schulhaus, das in Sichtweite unserer Wohnung lag, in einen Königspalast verwandelt? Und ich könnte wie in den Märchen aus 1001 Nacht leben, die ich verschlang und in denen Schule seltsamerweise nie vorkam. Der Nebel war eine Verheißung, dass die Welt auch ganz anders, ganz neu sein könnte, als ich sie alltäglich erlebte.
Als Student stieß ich in einem Roman von Arno Schmidt (dessen Romane ich ebenfalls verschlang, vielleicht weil darin so oft Nebel herrscht) auf das wunderbare Bild eines Wanderers, der sich für den Betrachter „im Nebel bildet“. Ja, dachte ich, das ist genau der Eindruck, den ich auch immer habe: Dass Dinge oder Wesen sich im Nebel bilden. Wenn ich auf einem Bahnsteig bei Nebel warte, umgeben von einem feuchten, opaken Grau, dann bildet sich irgendwann der Zug: Zuerst scheint sich in der erwarteten Ankunftsrichtung das Grau ein wenig zu verdunkeln, zu verdichten, dann wird eine Kontur sichtbar, immer schärfer, akzentuierter, etwas materialisiert sich, und dann bildet sich der Zug im Nebel. Natürlich weiß ich, dass der Zug auch vorher schon da war und schon kilometerweit durch den Nebel gepflügt ist. Aber das Gefühl meiner Wahrnehmung ist ein anderes, nämlich eben der, dass sich der Zug vor meinen Augen aus dem Nichts bildet. Ich hänge an diesem Gefühl, weil es ein wenig Magie, oder besser gesagt: Poesie in meinen Alltag bringt. Der Nebel ist für mich der Raum, in dem alles anders, neu, aufregend sein kann, es ist der Raum, in dem – für mich, der ich wenig von Physik verstehe – Schrödingers Katze zugleich tot und lebendig sein kann.
Das Wort „Nebelfänger“ kam zu mir vor einigen Jahren durch eine Freundin, die eine Stiftung leitet, die sich um Trinkwasserversorgung in sehr trockenen Weltgegenden kümmert. Nebelfänger sind netzartige Vorrichtungen, die die Luftfeuchtigkeit aus der Nachtluft ziehen und kondensieren können. Der Gedanke elektrisierte mich sofort: Trinkwasser bildet sich aus der Luft, aus dem Nichts, ein Nebelfänger kann Wasser aus der Luft greifen! Ich weiß natürlich, dass es physikalisch anders und komplexer ist – aber es war die Poesie des Bildes, die es mir sofort angetan hat: Der Nebelfänger als eine Metapher dafür, dass man etwas, vielleicht sogar etwas Neues, buchstäblich aus der Luft greifen kann. Ich beschloss, Nebelfänger zu werden.
Da es keine Kurse oder Seminare gibt, in denen man das Nebelfangen lernen kann, musste ich experimentieren. Eine erste Idee dazu hatte Christine Erlach, meine liebe Kollegin, mit der ich sehr viel zusammenarbeite. Als wir Ideen für unsere Strategie suchten, schlug sie vor, wir sollten einfach mal draußen in der Natur (in einem Park) herumgehen und Fotos von Dingen oder Situationen machen, die uns auffielen – ohne groß darüber nachzudenken. Als wir uns nach etwa 20 Minuten wieder trafen, hatte jede:r von uns sieben bis zehn Fotos gemacht. Wir sahen uns die Bilder an – sie zeigten einen Baumstumpf, ein Blatt Papier im Gras, einen Traktor, der gefällte Bäume transportierte, eine Astgabel und ähnliches – und begannen gemeinsam zu assoziieren, welche Ideen uns beim Betrachten der Bilder in Bezug auf unsere Strategie kamen. Wir waren beide sehr überrascht, wie uns die Bilder, die wir einfach so geschossen hatten, zu neuen Ideen oder neuen Perspektiven für alte Ideen anregten.
Wir haben diese Art von visuellem Nebelfangen seither auch schon mehrmals mit Teams ausprobiert. Am besten und überraschendsten gelingt das Nebelfangen meiner Erfahrung nach, wenn man, bevor man losgeht, Kopf und Herz möglichst leer macht: Gedanken loslassen, Gefühle und Begehren (zum Beispiel nach Lösungen oder Ideen) loslassen. Einfach losgehen und das fotografieren, was einen irgendwie anzieht, ohne Grund, ohne Erklärung. Immer wieder passiert es mir, dass ich dabei ein „gutes Bild“ oder eine „interessante Kombination“, zum Beispiel aus einem Graffito und einer Pflanze, sehe und das fotografiere. Meist erweisen sich diese Bilder als die unbrauchbarsten zum Nebelfangen: sie lösen wenig Assoziationen aus. Das mag daran liegen, dass sie ihren Dienst schon erfüllt haben: als „gutes Bild“ oder „interessante Kombination“, und das war es dann auch. Sehr viel reichere Assoziationen, Ideen, Gedanken schenken die Bilder, die absichtslos, ohne Gedanken, ästhetische Absichten, Gefühlen geknipst wurden, Situationen, zu denen sich mein Körper aus irgendwelchen Gründen hingezogen gefühlt hat. Diese Bilder haben nicht schon beim Fotografieren gesprochen, sondern tragen ihre Geheimnisse noch in sich und fangen dann, wenn wir sie betrachten, zu erzählen an. Wir müssen nur zuhören.
Am besten tauscht man sich nach dem Fotografier-Spaziergang mit anderen aus. Die Gedanken und Ideen stellen sich am leichtesten ein, wenn man über die eigenen Assoziationen spricht und denjenigen des oder der anderen zuhört. Eine Idee gibt dann oft die nächste, es kann eine Kette von Gedanken entstehen, die sich längst von dem Foto entfernt hat, aber äußerst wertvoll für uns, unsere aktuelle persönliche oder berufliche Situation sein kann. Das Foto war nur der Griff in die Luft, der Katalysator, der alles ins Laufen brachte.
Nebelfangen kann man nicht nur über das Visuelle, sondern mit allen Sinnen. Ich lauf oft im Wald, und manchmal, wenn es in mir ganz still ist, beginnt der Wald zu flüstern: Das Knacken eines Asts, ein Rascheln in den Büschen, das Rattern eines Güterzugs am anderen Ende des Waldes, das Lispeln von Blättern in einem Windstoß, das Aufheulen einer fernen Motorsäge. Jedes dieser Hörerlebnisse kann ein Akt des Nebelfangens werden, kann aber auch einfach nur ein Geräusch bleiben. Manchmal setzt das Lispeln der Blätter oder das Aufheulen der Motorsäge eine Gedankenkette in Gang, die sich dann irgendwie mit irgend etwas verbindet, das mich gerade beschäftigt – mit einem Text, an dem ich gerade arbeite, einem Problem, das mich gerade umtreibt, einer Idee, die ich bislang vergebens suchte, und hilft mir. Das Heulen der Motorsäge kann in den Text eindringen, in dem die Gedanken allzu leicht beieinander wohnten, und dort eine kreative Zerstörung auslösen, die zu neuen Gedanken und einem besseren Text führen.
Seit ich mit dem Nebelfangen begonnen habe, merke ich, dass für mich schon lange Zeitung zu lesen ein Akt des Nebelfangens ist, vor allem am Wochenende, wenn sich mehrere Sonntagszeitungen vor mir türmen. Ich lese, merkte ich, nicht um mich zu informieren – das hat das Internet schon längst und schnell erledigt. Ich lese Zeitungen, um Anregungen zu bekommen. Manchmal haben diese Anregungen etwas mit dem Thema des Textes zu, oft aber nichts oder hängen sich nur an einem Begriff auf. Kürzlich fand ich in einem Artikel, ich habe vergessen, wovon er handelte, die Formulierung „Ambivalenzen aushalten“. Sofort stellte sich bei mir eine assoziative Verbindung zum Thema des binären Denkens (einem Denken in schwarz und weiß) her, mit dem ich mich gerade wegen einer Buchpublikation beschäftigte. Ich notierte mir in meinem Nebelfänger-Heft (ja, ich führe seit kurzem ein solches, in dem ich mir alle aus der Luft gegriffenen, noch ganz ungeschliffenen Gedanken notiere): „Nachdenken über binäres Denken und das Aushalten von Ambivalenzen“.
Was daraus geworden ist, könnt ihr in Christines und meinem neuen Buch „In Aktanz gehen. Wie man hinderliche Geschichten lsowird“ nachlesen. „Aktanz“ ist übrigens auch so ein Begriff, den wir uns bei einem unserer Spaziergänge in den Stuttgarter Wäldern aus dem Nebel gegriffen haben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich bin ein begeisterter Nebelfänger geworden. Natürlich, jede:r, der oder die sich schon mal mit Kreativität beschäftigt hat, weiß, dass Ideen oft einfach aus dem Nichts kommen: Beim Duschen, beim Laufen, beim Putzen. Man kann Kreativitätstechniken anwenden, um neue Ideen wahrscheinlicher zu machen. Und man kann Nebelfänger werden, und immer mal wieder mit leerem Kopf und leerem Herzen durch die Welt gehen und hören und schauen, was die Welt uns zu sagen und zu zeigen hat.
Experimente zum Nebelfangen findet Ihr in unserem Buch:
Michael Müller / Christine Erlach (2024): In Aktanz gehen. Wie man hinderliche Geschichten loswird. Heidelberg: Carl-Auer, S. 177. zum Buch
Eine englische Version dieses Textes ist erschienen in:
Wolfgang Tonninger / Ana-Laura Lemke (2024): Hear & Now. Beyond Storytelling 2024. Abtenau: Almblitz, S. 37-41. zu Beyond Storytelling