In der Krise, nach der Krise: Welche Haltung brauchen wir, um die Zukunft neu erzählen zu können?
Herbst 2022. Noch immer ist unser Alltag durch Covid19 gezeichnet. Doch dazu sind seit einem halben Jahr noch sehr viel größere Herausforderungen gekommen. Es herrscht Krieg in der Ukraine, weil ein Diktator meint, sich nur durch alte bis uralte Großmacht-Narrative und deren Übersetzung in die Wirklichkeit an der Macht halten zu können. In der Folge davon wird bei uns Energie knapp und damit teuer, viele Menschen haben Angst nicht nur davor, ob sie sich in diesem Winter eine warme Wohnung werden leisten können, sondern auch vor einem neuen Weltkrieg.
Die Entwicklungen dieses Jahres haben viele unserer Gewissheiten und Glaubenssätze des Westens zerstört. Zum Beispiel die, dass internationaler Handel und Globalisierung dem Frieden dienen und nach und nach sich liberale Demokratien überall auf der Welt durchsetzen werden. Nicht nur die westlichen Regierungen, wir alle stochern im Trüben auf der Suche nach neuen, zumindest vorläufigen Narrativen, die unserem Handeln Sinn geben können.
Dysfunktionale Narrative
Doch auch schon vor den aktuellen Krisen scheint sich in Unternehmen und Gesellschaft eine Erkenntnis mehr und mehr durchzusetzen: Dass wir mit unseren bisherigen Denk- und Handlungsmodellen, Glaubenssätzen und Narrativen denkbar schlecht für die Zukunft gerüstet sind. Auf globaler und gesellschaftlicher Ebene steht unsere Art des Wirtschaftens und unser Lebensstil in einem krassen Widerspruch zu den Erfordernissen von Klima- und Umweltschutz. Auf Unternehmensebene hat man längst erkannt, dass eine agile, wendige und resonante Form der Organisation in einer Zeit, die zunehmend von VUCA (plus anderes) geprägt ist, unerlässlich ist – und doch bleibt „Agilität“ manchmal bei der Einführung einer neuen Methode stehen, deren Elemente in das ohnehin schon übervolle Organigramm übernommen werden. Und als Individuen ist unser Leben häufig von Überforderung, Zeitmangel und der schwierigen Vereinbarkeit unserer Rollen als Mitarbeiter:in, Mutter/Vater oder Partner:in geprägt; meist fehlt uns die Leichtigkeit und Spontaneität, die eine Voraussetzung für neues und innovatives Denken und Handeln ist.
Und natürlich interagieren diese Ebenen, denn als Individuen sind wir auch Mitarbeitende von Unternehmen und Mitglieder von Gesellschaften; wir prägen die Organisationen mit unseren Narrativen, und diese prägen uns.
Wir alle sehen diese Widersprüche schon sehr lange, und dennoch fällt es uns so schwer, tatsächlich etwas zu ändern. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass wir – teils bewusst, teils unbewusst – an eingeschliffenen Denkmodellen, Glaubenssätzen und Narrativen festhängen, die unser Handeln (mit)bestimmen. Solche „Störnarrative“ waren oft einmal in unserem (persönlichen, organisationalen, gesellschaftlichen) Leben funktional, sind es aber nicht mehr. Jetzt nehmen sie unserem Denken die Leichtigkeit, erscheinen als „alternativlose“ Wahrheiten, hemmen neues Handeln und neues Denken für die Zukunft. Solche Störnarrative sind etwa das Wachstumsnarrativ („Wirtschaft ist nur gesund, wenn sie quantitativ wächst“), das meritokratische Narrativ („Durch Leistung wird man zwangsläufig erfolgreich; wer keinen Erfolg hat, hat nicht genug geleistet“ ) oder persönliche Narrative, die uns Selbstzweifel, Entscheidungsschwierigkeiten und Unsicherheit bescheren. Vergleichbar sind sie mit „hemmenden Bewegungsmustern“, wie sie der Wissenschaftler und Bewegungslehrer Moshé Feldenkrais beschreibt: Oft sind an bestimmten Bewegungen unseres Körpers Muskeln beteiligt sind, die die Bewegung eher hemmen als fördern. Wenn es uns gelingt, diese wegzulassen, bewegen wir uns leichter und gesünder. Wenn es uns analog gelingt, Störnarrative wegzulassen, sind wir offen für Leichtigkeit und neues Denken.
In Aktanz gehen
Um all diesen Herausforderungen auf persönlicher, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene begegnen zu können, brauchen wir also eine neue Haltung, die es uns ermöglicht, mehr Leichtigkeit, Spontaneität und Kreativität in unser Leben und unsere Organisationen zu bringen. In der wir schnell auf Veränderungen, den Verlust alter Gewissheiten und neue Geschichten, auch wenn sie uns nicht gefallen, wie etwa die, die Putin gerade schreibt, reagieren können. Und mit der wir auch alte, dysfunktional gewordene Narrative, in die wir manchmal schon seit Jahrhunderten verstrickt sind, loslassen und durch neue ersetzen können. Wir nennen diese neue Haltung: In Aktanz gehen. „Tanz“ steckt in Aktanz. Aber auch „Aktivität“ und in „Aktion gehen“ klingt in diesem Wort an. Wenn wir in Aktanz gehen, fällt uns alles leichter, und wir werden wieder zum Subjekt unseres Handelns, nicht zum Objekt, wir werden zu Protagonist:innen und bleiben nicht Opfer widriger Umstände, schwieriger Situationen oder hoher Belastungen. Aktanz ermöglicht ein leichtes, innovatives und schnelles Reagieren auf sich verändernde Bedingungen und ist daher eine wichtige Voraussetzung für Zukunftsfähigkeit. Wir sehen dahinter eine aktive Bewegung: Es ist keine Haltung, die man ein für alle Mal einnimmt, und dann „hat man sie“, sondern es ist eine Bewegung („in Aktanz gehen„), die uns immer wieder herausfordert, immer wieder neu den Weg hin zu mehr Leichtigkeit, Offenheit, Kreativität und vernetztem Denken zu gehen. So werden wir wieder handlungsfähig und können beginnen, uns aus der Verstrickung alter Narrative zu lösen, die einmal nützlich waren, aber uns inzwischen auf dem Weg in die Veränderung, die wir brauchen, behindern.
Der Tanz der Leichtigkeit
Wenn wir in Aktanz gehen, dann können wir – zumindest besser als vorher – aktiv unser Leben, unsere Arbeit gestalten, und es fühlt sich zudem auch noch leichter an. Vielleicht klingt für manche:n Leser:in dieses Versprechen der Leichtigkeit wie etwas, das nice to have wäre, aber nicht entscheidend: Es würde auch schon reichen, mag man denken, wenn man Protagonist:in des eigenen Lebens, der eigenen Handlungen werden könnte, auch wenn es schwer fällt. Aber die Leichtigkeit hat eine wichtige Rolle in der Aktanz: durch sie können wir die Dinge, die wir tun wollen, wirklich tun und verfangen uns dabei nicht ständig im narrativen Unterholz der Störnarrative. Vielleicht kann ein Beispiel das näher erläutern, das der schon erwähnte Moshe Feldenkrais beschrieben hat. In Feldenkrais‘ Bewegungslehre spielt Leichtigkeit eine sehr große Rolle, es geht immer auch darum, Bewegungen mit mehr Leichtigkeit und damit auch harmonischer und „gesünder“ zu machen. Und das gilt nicht nur für körperliche Bewegungen, sondern für jede Art von Tätigkeit. Als Beispiel führt er den französischen Philosophen und Aufklärer Voltaire an, der seinen Roman „Candide“ in etwa der Zeit geschrieben habe, die man für eine sorgfältige Lektüre des Werks brauchen würde – also sehr schnell. Und das sei ihm gelungen, weil er es geschafft habe, all das, was nicht zur Tätigkeit des Romanschreibens dazugehörte, einfach wegzulassen. Jede(r), der oder die schon einmal ein Buch oder auch nur einen Artikel geschrieben hat, weiß, was er damit meint: Es sind all die Gedanken und Narrative, die bei vielen von uns – und die beiden Autor:innen dieses Beitrags können ein Lied davon singen – immer mitlaufen. Das können Prokrastinationsgedanken sein: Ach, jetzt schau ich mal bei Amazon, ob das neue Buch von xy schon erschienen ist. Das Geschirr muss auch noch abgewaschen werden. Oder es sind Selbstzweifel: Ist der Satz, den ich da gerade hingeschrieben habe, wirklich gut? Ist der ganze Text nicht ein wenig umständlich formuliert? Vielleicht sollte ich das Projekt aufgeben, es will ja doch niemand lesen. Ich könnte ja auch in der Sonne liegen. Und jetzt kommt auch noch eine neue Textnachricht rein, die muss ich jetzt noch schnell beantworten…. Und so weiter… Kennen Sie das? Mit diesem ganzen Strom von Störnarrativen, mit dieser tiefen Verstrickung in das narrative Unterholz fällt alles wahnsinnig schwer und wird schon in dem Moment, in dem es überhaupt entsteht, in Zweifel gezogen, relativiert, hinterfragt. Stellen Sie sich vor, wir könnten diese Begleitmusik einfach weglassen – und alles, was wir tun, ist das, was wir wirklich tun wollen. Und das nicht nur in unserem persönlichen Leben, sondern auch als Unternehmen oder als ganze Gesellschaft!
Wie wir in Aktanz gehen können
Das alles hört sich natürlich wunderbar an, und vielleicht haben Sie genickt, als Sie das gelesen haben: Ja, wäre wirklich schön, aber… Wir sind gerade dabei, die methodischen Schritte zu entwickeln, wie wir in Aktanz gehen können – angefangen damit, wie wir es schaffen, Störnarrative zu erkennen und zu verändern. Wir werden dabei auf unsere Erfahrungen mit mehr als zwanzig Jahren narrativer Arbeit in Unternehmen, im Coaching in gesellschaftlichen Initiativen und Gruppen aufbauen – und natürlich auch auf die Arbeiten anderer wie Jerome Bruner, Hartmut Rosa oder Chené Swart. Wir werden in den nächsten Monaten immer wieder von unserer Arbeit an den methodischen Schritten hin zur Aktranz berichten, in Blogbeiträgen oder Podcasts, in Seminaren und Workshops. Wir arbeiten auch gerade an einem Buch zu diesem Thema, das 2024 erscheinen wird. Dankbar sind wir für Feedback, Ideen, weiter- und umdenken. Denn nur gemeinsam und untereinander vernetzt können wir in Aktanz gehen.
Oktober 2022
Christine Erlach & Michael Müller